Widerspruchspyramide

„Hierarchie des Widerspruchs“ von Paul Graham (deutsche Übersetzung von Daniel Wesel, https://wissensdialoge.de/gut-widersprechen-und-gut-zustimmen), Abbildung basierend auf der Graphik von Paul Graham’s Wikipedia Seite.

Durch einen Tweet bin ich über einen Artikel von Paul Graham gestolpert, der mir bisher unbekannt war. In dem Artikel „How to Disagree“ (deutsche Übersetzung „Wie man widerspricht“ von Jens Oliver Meiert) stellt der amerikanische Programmierer Paul Graham eine Hierarchie des Widerspruchs in den Stufen 0 (ganz unten) und 6 auf. Die einzelnen Stufen sind:

  1. Stufe 0: Beschimpfung
  2. Stufe 1: Ad Hominem
  3. Stufe 2: Kritik des Umgangstons
  4. Stufe 3: Widerspruch
  5. Stufe 4: Gegenargument
  6. Stufe 5: Widerlegung
  7. Stufe 6: Den Hauptpunkt widerlegen

0: Die unterste Stufe (für echte Nullen) braucht man wohl nicht näher zu erklären. Beschimpfungen und Beleidigungen (heute in den sozialen Netzwerken ja schon fast normal) helfen kaum, einen Dialog in Gang zu bringen.

1:  Auf den Menschen gerichtete Angriffe sind dann die zweitschwächste Art der „Argumentation“. Damit wird nicht das eigentliche Hauptargument widerlegt, aber der Mensch, der es vorbringt, herabgewürdigt. Sehr gut kann man das derzeit an der Diskussion über die Klimaneutralität der Segelreise von Grete Thunberg nach New York nachvollziehen. 

2: Die Kritik des Umgangstons ist auch ein beliebtes Mittel, zwar nicht den Autor direkt herabzuwürdigen, aber eben den Ton, in dem er dies vorbringt. Damit greift man wieder den Inhalt des Arguments in keiner Weise an. Die Kritik, dass die Schüler von Fridays for Future in der Schulzeit demonstrieren, gehört in diese Kategorie. Die Berechtigung ihrer Argumente lässt sich nicht am Zeitpunkt des Protests festmachen.

3: Erstmals auf dieser Stufe wird auf das angegriffene Argument eingegangen, aber einfach ohne oder mit wenig Begründung widersprochen oder eine Gegenbehauptung ausgesprochen. Belege dazu gibt es keine. 

4: Erstmals ab dieser Stufe findet eine Argumentation statt. Gegenargument bedeutet nach Graham Widerspruch plus Begründung oder Beweis. Dieses Gegenargument kann etwas belegen, fraglich ist aber, was. 

5: Dies ist die überzeugendste Art des Widerspruchs. Damit verbunden ist, dass man das Argument, um das es geht, in den entscheidenden Punkten zitiert, damit sie die Stelle belegen können, die falsch ist.

6: Die überzeugendste Art der Widerlegung ist es, den Hauptpunkt der Meinung des anderen zu widerlegen. 

Eine schöne Darstellung der 7 Stufen mit einem anschaulichen Beispiel finden Sie auf der Seite „Bürger Walting“ von Prof. Dr. Michael Zehetleitner hier.

Ich persönlich würde der Pyramide noch eine Stufe 7 hinzufügen: Integration des Gegenarguments. Dies wäre für mich die höchste Form der Streitkultur. Dies würde bedeuten, dass die Beteiligten überprüfen, wie das Gegenargument in die bisherige Argumentation einbezogen werden könnte. In dem Beispiel der Bürger von walting würde das bedeuten, dass auf die Argumentation, dass der Kindergarten zu klein ist, da der Bedarf wächst, gegenargumentiert würde, dass der Architekt die bereits bei der Planung berücksichtigt hätte und mit geringen Kosten und wenig Aufwand das Gebäude um einen weiteren Gruppenraum erweitert werden könnte.

Ich finde diese Hierarchie des Widerspruch sehr hilfreich, die Redlichkeit der Argumentation einzuordnen. Man braucht eigentlich nur eine beliebige politische Talkshow anzusehen, um zu sehen auf welch niedriger Stufe dort argumentiert wird. Meist überschreiten die Diskutanten kaum die Stufe 3, die Stufe 0 bleibt zumindest in Talkshows meist außen vor (anders als in den sozialen Medien).

Auch für einen Mediator ist es gut, zu beobachten, auf welcher Widerspruchsebene die Argumentation der Medianden abläuft. Es wäre dann Sache des Mediators, die Diskussion auf die Stufe 4 bis 6 (oder 7) anzuheben.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde ausschließlich die männliche Form gewählt. Gemeint sind selbstverständlich alle Geschlechter.