Mit der Frage Fahrspurwechsel und Auffahrunfall auf der Autobahn hatte sich das Saarländische Oberlandesgericht auseinanderzusetzen. Unstreitig war der Widerbeklagte mit dem Fahrzeug der Klägerin auf das Fahrzeug des Beklagten aufgefahren, der infolge eines Wolkenbruchs die Autobahn recht langsam befuhr. Streitig war, wie lange vor dem Auffahrunfall der Beklagte von der rechten Spur auf die Überholspur gewechselt war, nach der Meinung der Klägerin unmittelbar vor dem Unfall, nach Meinung des Beklagten ca. 2-3 Minuten vorher. Das Landgericht hielt in erster Instanz keine der Unfallschilderungen für nachgewiesen. Das Landgericht hatte den Anscheinsbeweis für die Alleinschuld des Auffahrenden verneint und war zu einer hälftigen Schadensteilung gekommen.

Dem ist das Oberlandesgericht nun entgegengetreten und hat entschieden, dass
1. bei Auffahrunfällen auf Bundesautobahnen der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis nicht den Nachweis voraussetze, dass der Auffahrende „eine gewisse Zeit“ hinter dem Vordermann auf derselben Fahrspur hergefahren sei.
2. bei einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden der Anscheinsbeweis erst dann entkräftet sei, wenn der Fahrspurwechsel erwiesenermaßen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall erfolgt sei.

Es reicht nach Auffassung des OLG Saarbrücken nicht aus, dass behauptet wird, der Unfallgegner habe kurz vor dem Auffahrunfall die Fahrspur gewechselt. Allein die Tatsache, dass der Unfallgegner irgendwann einmal die Fahrspur gewechselt hat, reicht nicht aus, um den typischen Geschehensablauf eines Auffahrunfalls zu widerlegen. Es gibt zwar Obergerichte, die eine hälftige Schadensteilung vornehmen, wenn nicht aufklärbar sei, wann der Fahrspurwechsel stattgefunden hat. Die überwiegende Meinung, der sich der 4. Zivilsenat des Saarländischen Oberlandesgerichts anschließt, geht jedoch davon aus, dass nur die bewiesne ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden wechselte, den Anscheinsbeweis erschüttern kann. Da jeder einmal von der rechten auf die Überholspur gewechselt sein muss, wäre sonst der Anscheinsbeweis auf Autobahnen praktisch ausgehebelt. Zudem könne meist nicht nachgewiesen werden, dass der Auffahrende schon eine gewisse Zeit hinter dem vorausfahrenden Fahrzeug herfuhr. Man pflege mehr auf den Verkehr vor sich zu achten als auf die folgenden Fahrzeuge.

Da demnach der Anscheinsbeweis für eine volle Haftung des auffahrenden Widerbeklagten sprach, wurde er in der Berufungsinstanz zu vollem Schadensersatz verurteilt.

Fundstelle: Urteil des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 19.5.2009, Aktenzeichen 4 U 347/08 – 109